
dicht:Kunst
Es gibt natürlich auch richtig gute Dichter und wunderbare Gedichte. Gedichte, an denen es nichts zu verbessern gibt. Die auch durch Musik nicht besser werden. Ich habe es trotzdem versucht. Aus reiner Neugier. Ich habe versucht, bei der Vertonung mit maximalem Respekt vor den Werken und ihren Schöpfern vorzugehen. Manches davon ist hier zu hören.
Der Panther
Rainer Maria Rilke
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Elegie im Kriege
Erich Mühsam
Lieder sing ich, seit ich denke,
weil mein Herz empfindsam ist
und den Spender der Geschenke
im Genießen nicht vergisst.
Doch sie haben mich vergessen,
denen ich mein Lied beschert.
Niemand lebt auf Erden, dessen
Seele meines Sangs noch wert.
Heldentaten zu vollbringen,
ist kein Lob in dieser Zeit:
Disziplin heißt, sie vollbringen,
Angst gebiert die Tapferkeit.
Liebe, die das Herz beseligt,
zupft an keiner Leier mehr.
Hass ersetzt sie. Hass befehligt.
Hass ist Heil und Pflicht und Wehr.
Niemals kehrt die Freude wieder
und das Licht, das uns umgab.
Still versinken auch die Lieder
in der Menschheit Massengrab.
Mutterns Hände
Kurt Tucholsky
Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm –
un jewischt und jenäht
un jemacht und jedreht . . .
alles mit deine Hände.
Hast de Milch zujedeckt,
uns Bobongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen –
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält . . .
alles mit deine Hände.
Hast uns manches Mal
bei jroßen Schkandal
auch 'n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben . . .
alles mit deine Hände.
Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.
Ich ließ meinen Engel lange nicht los
Rainer Maria Rilke
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
Vergiss mein nicht
Novalis
Vergiss mein nicht, wenn lockre kühle Erde
Dies Herz einst deckt das zärtlich für dich schlug
Denk dass es dort vollkomm'ner lieben werde,
Als da voll Schwachheit ich's vielleicht voll Fehler trug.
Dann soll mein freier Geist oft segnend dich umschweben
Und deinen Geiste Trost und süße Ahndung geben
Denk das ichs sei, wenns sanft in deiner Seele spricht;
Vergiss mein nicht! Vergiss mein nicht!
An das Baby
Kurt Tucholsky
Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,...
Felix, Tante Putti ...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
»Baby, lach mal!« ruft Mama.
»Guck«, ruft Tante, »eiala!«
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an ...
Na, und dann – was meinste?
Weinste.
Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an ...
Na, und dann – was machste?
Lachste.
Herbsttag
Rainer Maria Rilke
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Ein kleines Abenteuer schienst du mir
Erich Mühsam
Ein kleines Abenteuer schienst du mir.
Du kamst, ich nahm dich und empfing von dir,
Was jemals schleudernd eine Frau verschenkte,
Die all ihr Sein in ihre Liebe senkte.
Und ich genoß, ein alternder Galan,
Geschmeichelt-zärtlich deinen jungen Wahn,
Nahm dir die wilden Küsse gern vom Munde
Und lebte zeitvergessen in der Stunde ...
Der Rausch war kurz. Ein Abend kam herauf.
Ich deckte dir mein breites Lager auf
Und staunte, daß zum Tee das Wasser kochte,
Eh' deine Hand wie sonst ans Türkreuz pochte.
Und als ich dann des Nachts alleine schlief,
War mir's, als ob mich deine Stimme rief,
Und eine Sehnsucht ging durch meine Träume,
Wie Frühlingswinde durch entlaubte Bäume.
Am ändern Tag kauft' ich zum Mittag ein:
Dein Lieblingsessen und Tokayerwein.
Ich stand am Fenster, rief dich, brummte Flüche,
Und schickt' die Speisen wieder in die Küche.
Ein Brief kam an - dein Duft und deine Hand.
Ich wußt', noch eh' ich las, was drinnen stand.
Auf meinen - unsern! - Divan sank ich nieder
Und schob dein Tuch beiseite und dein Mieder ...
Nachher im Spiegel schien ich krank und alt.
Im Aschennapf lag die Zigarre - kalt.
Ich pfiff und gab dem Stummel neues Feuer. -
Es war ja nur ein kleines Abenteuer.
Walzer
Novalis
Hinunter die Pfade des Lebens gedreht
Pausiert nicht, ich bitt euch so lang es noch geht
Drückt fester die Mädchen ans klopfende Herz
Ihr wißt ja wie flüchtig ist Jugend und Scherz.
Laßt fern von uns Zanken und Eifersucht sein
Und nimmer die Stunden mit Grillen entweihn
Dem Schutzgeist der Liebe nur gläubig vertraut
Es findet noch jeder gewiß eine Braut.
Es ist Nacht
Christian Morgenstern
Es ist Nacht,
und mein Herz kommt zu dir,
hält's nicht aus,
hält's nicht aus mehr bei mir.
Legt sich dir auf die Brust,
wie ein Stein,
sinkt hinein,
zu dem deinen hinein.
Dort erst,
dort erst kommt es zur Ruh,
liegt am Grund
seines ewigen Du.
Wiedersehen
Hermann Hesse
Hast du das ganz vergessen,
Daß einst dein Arm in meinem hing
Und Wonne unermessen
Von deiner Hand in meine Hand
Von meinem Mund in deinen überging,
Und daß dein blondes Haar
Einst einen flüchtigen Frühling lang
Der selige Mantel meiner Liebe war,
Und daß die Welt einst duftete und klang,
Die jetzt so grau verdrossen liegt,
Von keinem Liebessturm, von keiner Torheit mehr gewiegt?
Was wir einander wehe tun,
Die Zeit verweht's, das Herz vergißt;
Die seligen Stunden aber ruhn
In einem Glanz, der ohne Ende ist.
Begegnung
Rainer Maria Rilke
Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden:
auf einmal ist ein Horchender gefunden,
und alle Worte haben Sinn.
Alle Gebärden sind auf einmal groß
und ausgewachsen wie ein Flügelschlagen,
sie scheinen uns einander zuzutragen,
und wir sind noch vom Fluge atemlos, –
wenn schon das Schweigen kommt, auf das wir warten,
kommt wie die Nacht, von großen Sternen breit:
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.
Das erste Wort wird beide wieder trennen,
ein jeder ist, mehr als vorher, allein;
sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide größer sein.
Das geht an dich
Christian Morgenstern
Das geht an dich und mich und jeden:
Mehr sein, weniger reden,
weniger sagen, fragen, klagen,
mehr die Wärme nach innen schlagen;
unsere Zungen in Züchten halten,
nicht immer die ewig alten
Sätze und Plätze wiederkäuen,
Phrasen und Fratzen in allem scheuen;
langsam prüfen, sich gern bescheiden,
alles schnelle Vorurteil meiden;
uns genügen im Unentbehrlichen,
uns vereinfachen, uns verehrlichen,
eins vom Kinder- zum Greisenleben:
weise, weise zu werden streben.
Ich habe dich so lieb
Joachim Ringelnatz
Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.
Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei - verjährt -
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.
Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.
Ich habe dich so lieb.
Königin See
Rainer Maria Rilke
Wenn lang der rote Tag verflammt sich
und wenn der Sonnenflug gelähmt,
da hüllt die See in schwarzen Samt sich,
den weißer Hermelin verbrämt.
Sie legt in immer neue Falten
ihr Nachtgewand, schon halb im Traum;
zehn schlichte Fischerbarken halten
verliebt und schüchtern seinen Saum.
Lob und Tadel
Marie von Ebner-Eschenbach
Magst den Tadel noch so fein,
noch so zart bereiten,
weckt er Widerstreiten.
Lob darf ganz geschmacklos sein,
hocherfreut und munter
schlucken sie's hinunter.
Es färbte sich die Wiese grün
Novalis
Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßen Duft entgegen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Dass alles möchte lieblich scheinen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Vielleicht beginnt ein neues Reich
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Wie ich so stand und bei mir sann,
Ein mächtger Trieb in mir begann.
Ein freundlich Mädchen kam gegangen
Und nahm mir jeden Sinn gefangen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Sie ging vorbei, ich grüßte sie,
Sie dankte, das vergess ich nie.
Ich musste ihre Hand erfassen
Und Sie schien gern sie mir zu lassen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Uns barg der Wald vor Sonnenschein
Das ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden
Die Menschen sollten Götter werden.
Nun wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Todesfurcht
Karl Kraus
Hab verlangend alles schon empfangen,
allen Wechsel, den es gibt auf Erden:
aller Lust und allerlei Beschwerden
froh und unfroh immer wieder werden.
Und dazwischen ist die Zeit vergangen.
Neugier regt sich nach dem andern Kreise,
wie mags, frag ich, drüben nur bestellt sein;
und ob schwierig die besondre Reise,
und ob ich auf wunderbare Weise
werde wiederum auf meiner Welt sein.
Immer das Erlebte zu erleben,
lüstet mich, ich will es frei bekennen;
immer dieses zwischen Feuern schweben,
dieses atemlose Lastenheben
und dies hoffnungslose Herzverbrennen.
Ist’s dort grün wie meine Kinderstunden?
Ist der Tag dort grau wie meine Tage?
Warten alle Wunder, aller Wunden
Wonnefieber, schmerzliches Gesunden,
aller Wollust wechselvolle Plage?
Bleib ich aller Feuerflammen Beute
und erhitzt von allen Hindernissen?
Glüht mir dort der helle Haß des Heute,
und entflammen mich die kalten Bräute?
Ach ich brenne schon, es nur zu wissen!
Was sich so lebendig mir verdichtet,
was mit Aug und Ohr ich je erworben,
nimmer sei von mir darauf verzichtet!
Anders werde dieser Streit geschlichtet
und das Leben nur zum Teil gestorben!
Einverleibt der Welt, der es entbrannte,
will es nimmer sich vom Leben trennen.
Wenn ich sie nicht mehr mit Namen nannte,
die ich bis zum letzten Blick erkannte,
würde sie sich selbst nicht mehr erkennen.
Wortverbunden bleib ich den Gestalten,
gegen die ich mich des Geistes wehre.
Nimmer würde anderen Gewalten
wehrlos ich mich zur Verfügung halten
dort in einer wortverlassnen Leere.
Dreist entreiß ich mich dem faulen Frieden,
nichts zu haben als die Totenstille.
Sie zu meiden, will ich nicht ermüden;
da zu bleiben, wenn ich abgeschieden,
fortzuleben sei mein letzter Wille.
Todesfurcht ist, daß Natur mich bringe
einst um alles mir lebendige Grauen.
Jener ewigen Ruh ist nicht zu trauen.
Ich will leiden, lieben, hören, schauen:
ewig ruhlos, daß das Werk gelinge!
Nochmal Karl Kraus' Todesfurcht
Es gibt eine Tonaufnahme aus dem Jahr 1920, auf der Karl Kraus selbst zu hören ist, wie er diesen Text rezitiert.
https://youtu.be/HbZUmWjxWmM?si=f_1eo-EEyuXL5F0B
Ich habe den Text nochmal vertont und versucht dem Tonfall des Meisters näher zu kommen.
Wanderung zur Nacht
Klabund
Wenn ich in Nächten wandre
Ein Stern wie viele andre,
So folgen meiner Reise
Die goldnen Brüder leise.
Der erste sagts dem zweiten,
Mich zärtlich zu geleiten,
Der zweite sagts den vielen,
Mich strahlend zu umspielen.
So schreit ich im Gewimmel
Der Sterne durch den Himmel.
Ich lächle, leuchte, wandre
Ein Stern wie viele andre.
So und nicht anders
Theodor Fontane
Die Menschen kümmerten mich nicht viel,
eigen war mein Weg und Ziel.
Ich mied den Markt, ich mied den Schwarm,
andre sind reich, ich bin arm.
Andre regierten (regieren noch),
ich stand unten und ging durchs Joch.
Entsagen und lächeln bei Demütigungen,
das ist die Kunst, die mir gelungen.
Und doch, wär’s in die Wahl mir gegeben,
ich führte noch einmal dasselbe Leben.
Und sollt’ ich noch einmal die Tage beginnen,
ich würde denselben Faden spinnen.
Der November
Erich Kästner
Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor...
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.
Die letzten Kränze werden feilgeboten.
Die Lebenden besuchen ihre Toten.
In der Kapelle klagt ein Männerchor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde. Und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Was es ist
Erich Fried
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Nasser November
Erich Kästner
Ziehen Sie die ältesten Schuhe an,
die in Ihrem Schrank vergessen stehn!
Denn Sie sollten wirklich dann und wann
auch bei Regen durch die Straßen gehn.
Sicher werden Sie ein bisschen frieren,
und die Straßen werden trostlos sein.
Aber trotzdem: gehn Sie nur spazieren!...
Und, wenn’s irgend möglich ist, allein.
Müde fällt der Regen durch die Äste.
Und das Pflaster glänzt wie blauer Stahl.
Und der Regen rupft die Blätterreste.
Und die Bäume werden alt und kahl.
Abends tropfen hunderttausend Lichter
zischend auf den glitschigen Asphalt.
Und die Pfützen haben fast Gesichter.
Und die Regenschirme sind ein Wald.
Ist es nicht, als stiegen Sie durch Träume?
Und Sie gehn doch nur durch eine Stadt!
Und der Herbst rennt torkelnd gegen Bäume.
Und im Wipfel schwankt das letzte Blatt.
Geben Sie ja auf die Autos acht.
Gehn Sie, bitte, falls Sie friert, nach Haus!
Sonst wird noch ein Schnupfen heimgebracht.
Und, ziehn Sie sofort die Schuhe aus!

